Der „Long-Tail“ der Wissenschaft

9. September 2013 @ 16:13
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Visualisierung des „Long Tails“. Sowohl die grüne Fläche mit den „Bestsellern“ und die gelbe Fläche mit den Nischenprodukten sind gleich groß.

Im Jahr 2004 hat der US-Journlist und damalige Chefredakteur Wired Chris Anderson mit einem Buch die Theorie des „Long Tails“ populär gemacht. Im Internet, so der Kern dieser Theorie, kann auch der Handel mit Nischenprodukten gewinnbringend sein, schließlich hat man insbesondere bei virtuellen Gütern (z. B. Bücher und Musik) nur sehr geringe Herstellungs-, Lager- und Vertriebskosten, während man gleichzeitig eine sehr große Zahl an potenziellen Kunden in aller Welt ansprechen kann.

Ein sehr lesenswerter Beitrag von Klaus Graf hat mich nun auf den Gedanken gebracht, dass dies ganz ähnlich auch für die (Geschichts-)Wissenschaft gilt. In dem Beitrag argumentiert Graf, dass es besser wäre, wenn alle in Deutschland angefertigten Qualifikationsschriften, also Bachelor- und Masterarbeiten, Dissertationen und Habilitationen im Internet als Open-Access veröffentlicht werden, anstatt als Pflichtexemplare in Universitätsbibliotheken zu versauern oder als überteuerte Print-On-Demand-Bücher zum Teil fragwürdige Verlage zu finanzieren.

In den Kommentaren meines Post zur #digigw2013 (der Auftakttagung der „AG Digitale Geschichtswissenschaft“ des deutschen Historikerverbandes) habe ich einen ähnlichen Gedanken entwickelt. Um Studierende damit vertraut zu machen, dass Wissenschaft ein öffentlicher Prozess ist, halte ich es für sinnvoll, bereits für Masterarbeiten eine elektronische(!) open-access(!) Veröffentlichungspflicht  in den Prüfungsordnungen festzulegen. Wie Klaus Graf ausgeführt hat, haben angenommene Masterarbeiten, bereits eine Art „Peer-Review“ durch die Prüfer hinter sich, erfüllen also wissenschaftliche Mindeststandards. Eine Überarbeitung, z. B. mit Hinweisen der Prüfer, zwischen Abgabe und Veröffentlichung der Arbeit sollte aber möglich sein.

Nun mögen die allermeisten Masterarbeiten keine wissenschaftlichen Durchbrüche enthalten und vielleicht nur einen kleinen Wissenschaftlichen enthalten. Aber eine Veröffentlichung im Internet hat den Vorteil, dass keine nennenswerten Kosten entstehen, während die Arbeit gleichzeitig für eine sehr große Zahl an potenziellen Interessenten verfügbar wird. Internetrecherchen gehören ja zum Standard, wenn man sich in ein neues Thema einarbeitet. Warum also bei null anfangen, wenn sich bereits jemand zum selben oder einem ähnlichen Thema in einer Masterarbeit verfasst hat? Und warum soll man eine solche Arbeit nicht zitieren dürfen, die grundlegenden Kriterien eines kritischen Umgangs mit Sekundärliteratur vorausgesetzt? Selbst gedruckte Dissertationen sind ja heute keine Garanten mehr für wissenschaftliche Qualität und waren es vermutlich nie.

Der „Long-Tail“ der Wissenschaft besteht in der Masse aus solchen zeitaufwendig erstellten Qualifikationsarbeiten, die außer den Prüfern bislang niemanden interessiert haben. Im Zeitalter der elektronischen Publikationsmöglichkeiten stellen diese Arbeiten jedoch einen großen Wissensschatz dar und können einen wissenschaftlichen Mehrwert liefern und sei es, dass bereits jemand zu einem Thema bibliografiert hat. Warum also diesen Schatz nicht systematisch bergen und von der hintersten Ecke der Institutsbibliotheken dahin verlagern, wo die Zukunft des wissenschaftlichen Diskurses liegt – ins Netz? (Wer sich übrigens für meine Masterarbeit interessiert, der findet sie hier als PDF oder ePub)

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