Gestern war ich auf der Auftakttagung der „AG Digitale Geschichtswissenschaft“ des deutschen Historikerverbandes in Braunschweig und möchte hier jetzt ganz persönliches Fazit der Veranstaltung ziehen. Weitere Kommentare zu der Veranstaltung sind bislang hier, hier und hier zu finden.
Während die Vorträge und die Podiumsdiskussion (Programm der Tagung) sehr allgemein Fragen der Digitalisierung von Quellen, elektronischen Publizierens, Institutionen und „Big Data“ in der deutschen Geschichtswissenschaft thematisierte, war die sich parallel auf Twitter stattfindende Diskussion deutlich spannender und teilweise sehr viel kritischer und emotionaler. Leider gab es keine Twitterwall, sodass die Diskussion auf den Kreis der ohnehin sehr netzaffinen twitternden Historiker beschränkt blieb – schade, eine Rückbindung an Twitter hätte zumindest die Podiumsdiskussion beleben können.
Mein Zwischenfazit von der Diskussion und der Stimmung vor Ort auf Twitter habe ich in zwei Tweets zusammengefasst:
Digitale Geschichtswissenschaft muss man einfach machen, ohne auf Institutionen zu warten. #digigw2013
— Matthias Röhr (@mroehr) September 3, 2013
Digitale Geschichtswissenschaft sollte dezentral, nachhaltig und offen sein. #digigw2013
— Matthias Röhr (@mroehr) September 3, 2013
Beide Punkte möchte ich hier etwas näher ausführen, insbesondere, was ich unter einer dezentralen, nachhaltigen und offenen digitalen Geschichtswissenschaft verstehe.
Unter dezentral verstehe ich, dass jeder Historiker digital denken bzw. die Mechanismen der vernetzten Welt verstehen und für seine Arbeit nutzen sollte.
Ich bleibe dabei. Digitalisierung von Quellen (auch) Dezentralisieren. Jeder Historiker mit Scanner kann helfen! #digigw2013
— Matthias Röhr (@mroehr) September 3, 2013
Statt also nur auf große Digitalisierungsprojekte der Archive und Bibliotheken zu bauen, sollte ein „digitaler“ Historiker lieber selber „seine“ Quellen digitalisieren und veröffentlichen. Ich unterstelle einfach mal, dass ohnehin bereits heute viele Historiker bei Archivbesuchen Quellen digitalisieren, indem sie sie für eine spätere Auswertung abfotografieren oder scannen. Warum also nicht diese Digitalisate anderen zugänglich machen, etwa in dem man sie auf einen Blog veröffentlicht.1Wer im Übrigen Digitalisate zur Geschichte der Hackerkultur sucht, wird auf meinen Blog fündig, unter anderem hier.
@mroehr @Mareike2405 Ich sage: (1) persistente Adressen/Identifier und (2) institutionelle Verantwortung für dauerhafte Bereitstellung
— Patrick Sahle (@patrick_sahle) September 3, 2013
Der Hinweis von Patrik Sahle ist natürlich auch wichtig. Um die Akzeptanz und die Nutzbarkeit dieser „Crowd-Sourced-Digitalisierung“ zu erhöhen, ist vermutlich dann doch wieder eine zentrale Institution hilfreich, welche die Digitalisate sammelt, sie dauerhaft zu speichern und eindeutig referenzierbar macht – eine Art fachwissenschaftliches Wikisource.2Vielleicht muss das Rad in diesem Fall ja gar nicht neu erfunden werden.
@mroehr aber auch in guter Qualität und mit sauberen Metadaten? #digigw2013
— Jan Hecker-Stampehl (@heckerstampehl) September 3, 2013
Der korrekte Umgang mit Metadaten sollte zum selbstverständlichen Handwerkszeug eines Historikers gehören (Quellenkritik und so…), insofern sehe ich da keine grundsätzlichen Probleme – man muss nur (teilen) wollen.
In einer digitalen Geschichtswissenschaft sollte es gute wissenschaftliche Praxis sein, zu einer Publikation auch die Primärdaten zu veröffentlichen, also zumindest die Quellen, auf denen man seine Argumentation aufbaut. 3Im Idealfall natürlich auch diejenigen, die man ignoriert hat…) Auf diesem Weg könnte ein weiterer Zweig der Retrodigitalisierung geschaffen werden, die die Digitalisierungsstrategien der Archive und Bibliotheken natürlich nicht ersetzen, aber an einer sinnvollen Stelle ergänzen kann.
Dezentral zu handeln gilt natürlich auch für den Bereich der Publikationen. Hier ist auch jeder Fachhistoriker aufgerufen, dezentral, im Zweifel also auch auf dem eigenen Blog zu publizieren. Allerdings bedarf es hier noch fachwissenschaftlich anerkannte Werkzeuge der Qualitätssicherung und der Sichtbarkeit – warum werden auf H-Soz-u-Kult eigentlich nie Blogposts rezensiert? Dass nur analoge Publikationen für das Renommee eines Historikers hilfreich sind und auf Publikationslisten hilfreich sind, mag zwar von vielen noch so empfunden werden,4Was nicht heißt, dass es tatsächlich noch so ist. aber um dies zu ändern, bedarf es qualitativ hochwertiger und einflussreicher digitaler Publikationen. Also mehr Mut, und die Bereitschaft, digital zu publizieren. Zukunftsängste waren schon immer Bremsen des Fortschritts.
Ich wiederhole mich 🙂 Nachhaltigkeit von Daten bzw. digitalisierten Quellen geht am ehesten durch offene Lizenzen & Formate. #digigw2013
— Matthias Röhr (@mroehr) September 3, 2013
Digitale Geschichtswissenschaft sollte nachhaltig und offen sein. Nachhaltig kann man unterschiedlich auslegen, ich verstehe hier darunter, dass die Ergebnisse einer digitalen Geschichtswissenschaft dauerhaft und anschlussfähig sein sollten,5Eine andere Deutung von „nachhaltiger“ Geschichtswissenschaft wäre unter anderen die Dauerhaftigkeit von Stellen. also mindestens so dauerhaft wie gedruckte Bücher. Auf der Tagung wurde dabei öfters das Bild einer verwaisten Projekthomepage verwendet, die irgendwo auf einen Institutsserver herumliegt.6Oder der studentische Mitarbeiter, der die Ergebnisse auf einem USB-Stick mit nach Hause nimmt.
Dauerhaftigkeit kann in der digitalen Welt unter anderem dadurch erreicht werden, dass etwas möglichst oft kopiert wird und sich quasi „viral“ von ganz alleine verbreitet. Dazu bedarf es aber offener Lizenzen7Oder eines anderen Urheberrechts!, die das Kopieren von Publikationen und Quellen erlauben, ebenso wie offene (Datei)Formate, die das Kopieren überhaupt erst ermöglichen und sicherstellen, dass das Betrachten und Bearbeiten der Dateien auch noch in Hunderten von Jahren möglich ist. Also PDF-A, ePub, XML und .odt statt .doc, .xls oder Tiffs.
Eine verwaiste Projekthomepage kann bislang verschwinden, wenn im Universitätsrechenzentrum jemand den Stecker zieht, aber nicht, wenn zuvor jemand eine Kopie gezogen und neu veröffentlicht hat, weil sich Forschungsergebnisse darauf beziehen.
Für ein eher als konservativ geltendes Fach wie die Geschichtswissenschaft mögen dies ziemlich radikale Vorstellungen sein, die sicherlich auf Widerspruch treffen. Aber die Digitalisierung der Welt ist ein ziemlich radikaler Prozess, und welchen gesellschaftlichen Stellenwert kann eine „analoge“ Geschichtswissenschaft noch für sich beanspruchen, wenn kaum noch gedruckten Bücher gekauft werden und es keine klassischen Buchverlage oder Zeitungen mehr gibt? Insofern wünsche ich allen Historikern mehr Mut, sich auf den digitalen Wandel einzulassen, den auch in der Zukunft braucht die Gesellschaft einen kritischen und kompetenten Umgang mit der Vergangenheit, also Geschichtswissenschaft. Und nur wer handelt, kann die Zukunft gestalten.
Hier mein Fazit zur #digigw2013 „Digitale Geschichtswissenschaft sollte dezentral, nachhaltig und offen sein“: http://t.co/FuAzlyYS1k
Kleiner Gedanke am Rande: Im Bezug auf das Digitale wird ja immer fleißig über die Nachhaltigkeit geschrieben und behauptet, dass digitale Dinge ja schnell wieder verloren gehen würden. Gleichzeitig leistet es sich die Geschichtswissenschaft, größere Teile der (studentischen) Arbeiten einfach in den Papierkorb zu befördern: Hausarbeiten werden gar nicht archiviert und auch Abschlussarbeiten werden nur in den seltensten Fällen irgendwie zugänglich gemacht. Im besten Fall hat der jeweilige Lehrstuhl ein Archiv oder reicht die ans Uniarchiv weiter.
Ein gelungener Kommentar, vielen Dank. Man kann über einige Punkte streiten: Digitalisate online stellen kann dennoch mit Rechten oder Bestimmungen etwa der Archive kollidieren. Das alles im Stil des self-archiving zu machen – ich weiß nicht. Wäre da die Schaffung eines Digitalisate-Repositoriums nicht sinniger (gerade auch im Interesse der von Dir erwähnten Nachhaltigkeit)? Und crowdgesourcte Quellen, sehr gerne, aber dann mit redaktioneller Kontrolle.
@MS Da stimme ich dir zu, ich hatte selber gerade den Gedanken, dass man zumindest für geschichtswissenschaftliche Masterstudiengänge eine Pflicht zur (elektronischen) Veröffentlichungen von Hausarbeiten in die Prüfungsordnungen schreiben sollte. Das macht die Studierenden einerseits mit den Mechanismen des (elektronischen) Publizierens vertraut und schafft ein Gefühl dafür, dass Wissenschaft nicht im stillen Kämmerlein stattfindet. Zudem könnte das auch der der Qualität von Hausarbeiten zugutekommen.
@Jan Hecker-Stampehl Meine Vorschläge zur “Crowd-Sourced-Digitalisierung” sind zumindest im Bereich der Zeitgeschichte nicht kompatibel mit dem derzeitigen Urheberrecht. Aber auch hier finde ich, dass es besser ist, Mut zu haben und zu machen, statt Angst aus vor den Archiven oder dem Urheberrecht passiv zu bleiben. Und dass Archive (Verwertungs-)Rechte an ihren Archivalien oder deren Digitalisate beanspruchen, halte ich persönlich für höchst problematisch …
Ein zentrales Repositorium für Digitalisate halte ich, wie gesagt, für sinnvoll, gerne auch mit redaktioneller Kontrolle – am besten aber auch crowdgesourct, um Flaschenhälse zu vermeiden. Der beste Experte für eine Quelle ist schließlich der Historiker, der mit ihr arbeitet.
Dazu noch ein weiterer Gedanke: Digitale Geschichtswissenschaft sollte „Open Source“ sein. Das heißt: Historiker sollten alle Quellen zur Verfügung stellen, die benötigt würden, um ihre Ergebnisse zu widerlegen, sich aber zumindest darum bemühen, eine Überprüfung so einfach wie möglich zu machen.
Habe einen etwas erweiterten Kommentar auch als Reaktion hierauf geschrieben:
http://digireg.twoday.net/stories/465681014/
Zu den Masterarbeiten: In anderen Unis ist das übrigens schon üblich, die Uni Graz macht das schon recht intensiv, der Bibliotheksserver stellt schon jetzt eine Reihe von Abschlußarbeiten bereit. Übrigens publizieren viele ihre Arbeiten inzwischen selbst und verkaufen sie über Amazon oder andere Anbieter.
Zu den Masterarbeiten (und allen anderen Prüfungsleistungen) wurde mir letzte Woche von meinem Doktorvater etwas die Augen geöffnet: Das Problem der Veröffentlichung besteht darin, dass es keine Regelungen über eine etwaige Überarbeitung gibt. Anders als bei der Dissertation wird die Masterarbeit doch meist so veröffentlicht, wie sie auch im Prüfungsamt abgegeben wurde. Das heißt, all die Fehler, Inkonsistenzen und Probleme einer solchen Arbeit kommen dann zusammen mit den Namen beider Gutachter online.
Das hindert mich nicht daran, meine Masterarbeit weiterhin online zu haben, aber es ist definitiv ein Problem, das mal grundsätzlich geklärt werden muss.
Zu der Veröffentlichung von Masterarbeiten: Ich würde eine (e-)Publikation bereits bei Seminararbeiten von Masterstudierenden fordern, ganz einfach, damit man sich ein wenig an das Gefühl der Öffentlichkeit gewöhnen kann und begreift, dass Wissenschaft ein Geben und Nehmen ist. Gerne kann die Arbeit auch nach der Begutachtung überarbeitet werden, was zählt, ist doch letztlich der Beitrag, der die Arbeit zum wissenschaftlichen Diskurs beisteuert (und sei der auch noch so gering).
Digitale Dokumente können ja sehr gut versioniert werden, (Seminararbeit zu einem Thema „Version 0.1beta“, Masterarbeit zum selben Thema „Version 1.0“, veröffentlichte Masterarbeit „1.1“, Dissertation dazu „Version 2.0extended“… ;-))
Interessanter Gedanke, wobei ich mir da nicht sicher bin, ob die Schlussfolgerung da in Ordnung ist: Ein Prof steht ja mit seinem Ruf immer für die Leute, deren Prüfungen er abnimmt und deren akademischen Grad er verleiht. Und der Absolvent kann auch immer mit seinem Grad hausieren gehen.
Auch wenn der Artikel schon ein wenig älter ist, ist er immer noch lesenswert und bringt die Forderungen auf den Punkt!