Prism und die gesellschaftssanitäre Aufgabe der Überwachung

2. Juli 2013 @ 16:44

Auf Carta hat Michael Konitzer darüber geschrieben, dass die massenhafte Überwachung des Internets durch die Geheimdienste, beispielsweise durch das vor Kurzem bekannt gewordene Prism-Programm der NSA vor allem dazu dient, um vermeintlich „normales“ Kommunikationsverhalten zu kennen, um „Abweichungen“ hiervon einfacher erkennen zu können.

Alles, was die Dienste für nicht „normal“ halten im Netz wäre demzufolge bereits ein Verdachtsmoment. Während ein gelegentlicher Besuch auf Youporn also möglicherweise noch als „normal“ angesehen wird, könnten bereits Besuche auf Indymedia oder von Dschihaddistenforen das persönliche Staatsfeindscoring nach oben treiben – und auf lange Sicht vielleicht zu „Maßnahmen“ der Regierungen führen. Man könnte dann noch intensiver überwacht werden oder bei der nächsten USA-Einreise sehr genau kontrolliert und nach seinen Facebook-Aktivitäten befragt werden.

Solche Befürchtungen sind nicht neu. Bereits vor mehr als 30 Jahren hat sich besonders in Deutschland das Alternative Milieu vor der Rasterfahndung und den Polizeicomputern gefürchtet. 1979 veröffentlichte der Spiegel eine 7-teilige Serie über das „Stahlnetz“ der polizeilichen und geheimdienstlichen Überwachung. Große Angst bereitete damals die geplante Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises – das ist die alte Plastikkarte mit Einträgen in computerlesbarer Schrift. Heute haben unsere Ausweise RFID-Chips und sind per Funk auslesbar – so viel zum technischen Fortschritt. Liest man im Lichte der heutigen technischen Möglichkeiten und der Prism-Enthüllungen die Spiegel-Serie, kann es einem kalt den Rücken herunterlaufen…

Dass diese Ängste nicht vollkommen aus der Luft gegriffen waren, zeigte im Herbst 1980 ein Interview des damaligen BKA-Präsidenten Horst Herold mit dem Bürgerrechtler Sebastian Cobler. Der genaue Wortlaut des Interviews war Inhalt mehrerer juristischer Verfahren, Horst Herold hat öfters versucht, eine erneute Veröffentlichung zu verhindern, zuletzt 2008. Seitdem ist das Interview bei Wikileaks und unter anderem hier zu finden. Eine Lektüre lohnt sich!

Herold, der vom Kybernetikdiskurs der 1950er und 1960er Jahre stark beeinflusst war, spricht in dem Interview darüber, dass die von der Polizei angehäuften Daten dazu genutzt werden sollen, um „gesellschaftssanitär“ tätig zu werden und „sozialschädliche Verhaltensweisen“ bereits im Vorfeld zu erkennen und zu verhindern. Was genau „sozialschädliches Verhalten“ sein soll, bleibt dabei aber offen und soll der Definitionsmacht der Polizei unterliegen.

Und genau dies ist das Problem solcher Ideen. Die Aufgabe, zu entscheiden, wer „normal“ und wer „abweichend“ ist, steht nicht der Polizei oder den Geheimdiensten zu. Diese Macht steht, wenn überhaupt, nur der Gesellschaft als Ganzes zu. Freiheit bedeutet unter anderem, sein Leben weitgehend selbst gestalten zu dürfen – ohne zu fürchten, sich etwa für seinen Glauben, seine politische Ansichten oder auch nur seine Surfgewohnheiten rechtfertigen zu müssen. Und daher ist jede anlasslosen Überwachung eine Gefahr für die Freiheit – 2013 umso mehr als 1980.

8 Kommentare auf „Prism und die gesellschaftssanitäre Aufgabe der Überwachung“

  1. MS

    Ich glaub zu Herold muss ich auch noch was bloggen. Ich glaub, dass der in diesem Zusammenhang irgendwie von den Protestlern häufig als absoluter Buhmann dargestellt wird, eigentlich aber etwas anderes meinte.

  2. Matthias

    @ms Da kannst du recht haben, Herold war aber auch gut darin, sich missverständlich auszudrücken. Im Fall des Cobler-Interviews kommt noch hinzu, dass es vermutlich von Cobler so montiert wurde, das Herold damals von einem kritischen Publikum missverstanden werden musste.
    Herold ist eine sehr interessante Person in dem Kontext, neben der bereit existierenden Biographie von Dieter Schenk ist meines Wissens gerade eine weitere im Entstehen, die einen stärkeren wissenschaftlichen Fokus hat.

  3. MS

    Ich behaupte mal, dass damals kaum einer das Interview wirklich gelesen hat. Die Zeitschrift Transatlantik hatte ja mit ~150.000 eine mittelmäßig hohe Auflage und der Spiegel hat nur einen Auszug gedruckt (der nicht im Archiv online ist, da wär es interessant zu schauen, was gedruckt wurde)

    Auf jeden Fall finden sich in allen mir bekannten Publikationen, von der taz über diverse Volkszählungsbücher und sonstige linke Publikationen eigentlich nur diese Aussage der „gesellschaftssanitären Rolle der Polizei“ und die Bezeichnung Sonnenstaat, welche aber nur als Textfragment verwendet werden ohne diese in den weiten Kontext des Interviews einzuordnen.

    Interessant finde ich den Schluss des Interviews, wo auch dieser Sonnenstaat-Gedanke auftaucht:

    „ich würde keine Arbeitsstunde investieren für einen Computer als Repressionsinstrument. Natürlich: repressive Funktionen wird der Staat nicht ausschalten, denn Gefahrenabwehr ist notwendig. Aber meine Hoffnung gilt dem Computer als einem gesamtgesellschaftlichen Diagnoseinstrument. Das ist eine Prävention neuen Stils, die letztlich auch die Terrorursachen aufhebt, diesen Staat verrückt, ihn andersartig gestaltet, Gleichheit und Gleichrangigkeit im Prozeß und in der Ökonomie schafft. Mit Hilfe dieses Mittels kann ich sehen, wo es hakt: Klassen, soziale Unterschiede und Ungleichgewichtigkeiten, Ungerechtigkeit, Armut und Diskriminierung – das kann ich alles ablesen. Hier wird etwas nachgeholt, was für einen Staat dringend notwendig ist, und es wird nicht nachgeholt an Unterdrückungspotential, wenn ich mal die gängige Redeweise verwende, sondern an Informationspotential und an technischem Potential.

    C: Infommationspotentiale und Technologien – das ist eine -Binsenweisheit- konstituieren Herrschaft und bedingen auch strukturelle Verschiebungen zwischen und innerhalb der drei Gewalten und gegenüber den Bürgern. Es könnte hier ein Informationspool entstehen; der die Polizei zu einer politischen Definitonsmacht befördert, die in der Verfassung jedenfalls nicht vorgesehen ist.

    H: Das ist genau das Problem. Aber ich darf, ich muß die Verfassung auch entwickeln. Ich kann mich doch Erkenntnisquellen zur Gesundung der Gesellschaft, zur Intakthaltung auch der Verfassungsideen und Verfassungsleitziele nicht verschließen! Man muß einen lebenswerten Staat schaffen. Einen Staat der Bürger- einen transparenten Staat. Und den können Sie nur technisch transparent machen. Ja, das ist natürlich ein Sonnenstaat, aber der ist machbar heute. Hier in der Polizei ist das machbar, ich weiß gar nicht, warum man das nicht verstehen will- oder bin ich da auf einem ganz falschen Dampfer? “

    Wenn man so will, denkt Herold hier die Open Data-Bewegung vor. Ja, ich glaub ich muss hier mal was zu schreiben.

    1. Matthias

      (Den Spiegel-Auszug aus dem Interview hab ich irgendwo rumfliegen, ich schau mal, ob ich den finde und scannen kann. Wie gut, dass man Gedrucktes nicht so einfach zensieren kann …)
      Ich versuch mal meine Gedanken dazu zu ordnen, ganz fertig sind die aber noch nicht…
      Herold war in den 1960ern Polizeipräsident in Nürnberg und hat dort die aus den USA importierte Idee der „Kriminalgeografie“ mitgebracht, und etwa mithilfe des Computers die Kriminalstatistik ausgewertet und die Dienstpläne der Polizei angepasst und so die Kriminalität gesenkt. Kriminalgeografie geht aber noch weiter, und versucht unter anderem, Städte so zu gestallten, dass Kriminalität erschwert wird, etwa, indem es keine dunklen Ecken oder soziale Brennpunkte gibt. Eine Welt fast ohne Kriminalität ist also Herolds Vision, zumindest kann man ihn so verstehen. Um so was machen zu können, braucht man halt viele Informationen, Big Data, wie man heute sagen würde.
      Ich sehe dabei aber zwei grundlegende Probleme:

      1. Wer definiert, was Kriminalität/Nicht wünschenswertes Verhalten ist? Im Zweifel die Polizei, wenn Gesetzte entsprechend schwammige Vorgaben machen. (Was macht die Polizei eigentlich, wenn sie die „herkömmliche Kriminalität“ auf diesem Wege abgeschafft hat?)
      2. Hat überhaupt jemand das Recht, die Gesellschaft so zu steuern? Hat der Mensch nicht auch das Recht, sein Leben (weitgehend) frei zu gestalten, ohne von unsichtbaren Kräften (Stadtplanung, etc.) zu einem „sozial wünschenswerten Leben“ gedrängt zu werden?

      Natürlich denkt Herold damit gewissermaßen Big Data, aber eben nicht Open-Data vor. Der Akteur bleibt für Herold die Polizei als diejenige Institution, die vollständigen Einblick in die Gesellschaft hat und steuernd (kybernetisch …) in diese eingreifen soll.
      Anders dagegen die heutige Open-Data-Bewegung. Hier sind alle Rohdaten offen verfügbar (und im Idealfall auch die Ergebnisse ihrer Auswirkungen). Sie sind daher dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich, und die Gesellschaft kann entscheiden, was sie für wünschenswert hält. Macht durch Wissen liegt bei Open-Data bei allen, und nicht einseitig beim Staat.

  4. MS

    Ich würde an dieser Stelle die damalige Polizeiarbeit nicht vergessen und ihn völlig ahistorisch betrachten. Im Kern ist er es ja, der das BKA von den ganzen Altnazis säubert und modernisiert. Vorher hast du dort größtenteils noch die alte, aus dem NS bekannte Polizeiarbeit.

    Auch manche andere Aussagen von ihm muss man in diesem Kontext der eben sehr faschistischen Polizeiarbeit dieser Zeit sehen. Etwa:

    „Denn dass er bei Gericht nicht glücklich werden würde, zeigte schon sein erster großer Fall: der Prozess gegen den einst mächtigsten NS-Funktionär Nürnbergs, der Tausende Juden deportiert hatte. Dank zahlreicher herbeigeschaffter Entlastungszeugen sprach ein Schwurgericht ihn trotz der von Herold zusammengetragenen Beweise frei. In dieser Erfahrung liegt die Wurzel von Herolds Ablehnung der Zeugenschaft und seinem Streben nach Perfektionierung des Sachbeweises durch kriminologische Forschung.“
    http://www.zeit.de/2003/44/H_Herold/komplettansicht

    Siehe dazu auch: http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40209216/default.aspx#pgfId-1039265

    An dieser Stelle haben wir ein gewisses Quellenproblem: Das gesamte Interview liegt ja bekanntermaßen immer noch unter Verschluß, wär aber eine interessante Quelle. Herold erwirkt ja bis heute fleißig Gegendarstellungen, die sich auf dieses Interview beziehen und daher ist es sicherlich nicht die beste Quelle, um seine Politik zu betrachten. Ich habe hier aber leider nicht seine weiteren Schriften zur Verfügung. Eine Geschichte der Wirkung dieses Interviews wäre aber auch schon interessant genug, da Herolds Kritiker ihn eben sehr stark verteufelt haben, ihn aber eben nicht verstanden haben.

    Zu deinen zwei Punkten: Wenn ich Herold richtig verstehe, sieht er Kriminalität eben nicht als irgendwie angebohren, als Ausdruck schlechten Charakters etc. wie die Polizei der damaligen Zeit es gerne getan hat, sondern für ihn hat Kriminalität und auch Terrorismus gesellschaftliche Ursachen. Als Aufgabe der Polizei sieht er eben nicht die Bekämpfung dieser Symptome, sondern er will gewissermaßen die „Krankheit“ selbst bekämpfen, indem er aus den Erfahrungen der Polizei die gesellschaftlichen Probleme a) objektiv und computergestützt ermittelt und b) somit der Politik Handlungsbedarf anzeigt. Das sowohl positiv als auch negativ: Zum einen um zu zeigen, wo mit Gesetzen eingegriffen werden soll und zum anderen um überholte Gesetze abzuschaffen.

    (so, jetzt muss ich hier abbrechen, ich muss weg. Danke für den Spiegel-Scan, den werd ich mir morgen mal anschauen. Ich glaub den halben Blogpost hab ich schon zusammen)

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